Zwischen Mördern und Künstlern

28. Januar 2024

In Orgosolo, einem kleines Dorf im sardischen Bergland, lebte man lange Zeit hauptsächlich von der Schafzucht. Die Geschichte von Orgosolo erinnert stark an das kleine, unbeugsame Dorf aus den Asterix und Obelix Comics. Auch in diesem Ort hatte man schon immer auf die Macht der Herrschenden gepfiffen und das Gesetz in die eigenen Hände genommen. Dadurch erreicht das Orgosolo eine traurige Berühmtheit. Zeitweise zählte man im Durchschnitt sechs Mordopfer auf 4000 Einwohner: Jährlich wohlgemerkt.

In den Gassen von Orgosolo

Es gibt schauerliche Geschichten über die Selbstjustiz in diesem Ort. So hing Mitte des 20. Jahrhunderts eine Todesliste mit 36 Namen an der Kathedrale von Orgosolo und tatsächlich wurden binnen zweier Jahre 20 dieser Personen ermordet. Auch Touristen wurden nicht verschont. 1962 wurde ein britisches Paar ermordet und Entführungen und andere Gewalttaten waren ebenfalls an der Tagesordnung. Im Jahr 2000 schossen Unbekannte auf zwei Reisebusse, trotzdem kommen die Touristen weiterhin in Scharen in diesen Ort.

Die Fassade des Rathauses, die einige Spuren von Einschüssen aufweist

Doch es gibt auch andere, positive Geschichten über diesen Orgosolo. So scheiterte das italienische Militär am Widerstand der Dorfbewohner*innen. Im Jahr 1969 wurden die Hirten aufgefordert, ihre Tiere von den Weiden zu entfernen, da das Militär dort Schießübungen abhalten wollte. Die Hirten vermuteten jedoch, dass man ihr Weideland dauerhaft zu einem Truppenübungsplatz umwandeln wollte. Schon vor einigen Jahren hatte man dort mit dem Bau von Unterkünften begonnen, die von offizieller Seite als Feriensiedlungen deklariert wurden.

Dieses Wandbild thematisiert den Widerstand gegen das Militär

Um die Schießübungen zu verhindern, wurde kurzerhand eine Besetzung des Weidelands organisiert. Rund 3000 Männer, Frauen und Kinder zogen mit Autos und landwirtschaftlichen Fahrzeugen auf die Schafweiden und hinderten das Militär am Zugang zu dem Gelände. Einige Stunden lang verhandelte man und erreichte schließlich die Zusage, dass die Schießübung nur für begrenzte Zeit durchgeführt werde. Das Militär kam danach nicht wieder und die »Ferienanlage« steht bis heute leer.

Viele der Wandbilder thematisieren das tägliche Leben und die Traditionen in Orgosolo

Heute sind es vor allem die gruseligen Geschichten aus der Vergangenheit, aber auch die unglaublich fantastische Street-Art an den Wänden der Häuser, die Besucher nach Orgosolo locken. Fast jedes Haus in der Innenstadt ist mittlerweile bemalt.

Häufig behandeln die Murales (Wandmalereien) politische Themen

Meist sind die Murales von unglaublich guter Qualität

Das erste Wandgemälde entstand 1968 anlässlich des Besuchs einer Mailänder Theatergruppe. Später begannen Schüler Flugblätter an die Fassaden zu kleben. Die Themen waren der Vietnamkrieg, der Partisanenkampf während des Faschismus und lokale Ereignisse. Als der Kunstlehrer Francesco del Casin zusammen mit seinen Schülern begann politische Bilder direkt auf die Wände zu malen, begann eine Entwicklung, die wir heute im Ort nachvollziehen können. Immer mehr lokale und ausländische Künstler nutzten die Wände des Ortes für politische Botschaften.

Noch spannender wird es, wenn man die Geschichten hinter den Bildern kennt:

Der Bauer Luigi Podda wurde 1950 bei der Feldarbeit verhaftet. Es gab den Verdacht, dass er an bewaffneten Zusammenstößen mit Carabinieri beteiligt war. Obwohl es Zeugenaussagen gab, die aussagten, dass er nicht an der Tat beteiligt war, wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach 26 Jahren wurde er begnadigt und musste jedoch weitere 10 Jahre in Verbannung auf dem Festland leben. Quelle: Spiegel

Auch dieses Bild hat eine Geschichte:

Der 20-jährige Franco Serantini engagierte sich in der Bewegung der Anarchisten und hatte 1972 an einer Protestaktion in Pisa teilgenommen. Dort wurde er verhaftet und klagte beim Verhör über Unwohlsein. Seine Beschwerden wurden nicht ernst genommen. Am nächsten Tag fiel er ins Koma und starb. Der Gefängnisarzt wurde 1977 ermordet. Quelle Spiegel

Hunderte Wandmalereien zieren die Straßen von Orgosolo, sie erzählen von Bräuchen, Traditionen, Kultur und Widerstand der Einwohner der Barbagia. Die turbulenten Sechziger und Siebziger Jahren führten zur Entstehung der kollektiven Wandmalereien, die noch heute den Alltag der Bauern, die Machtkämpfe, soziopolitische Themen detailliert beschreiben, dazu gehören auch Frauen bei der Arbeit, reitende Männer, Hirten. Orgosolo ist eine zeitlose Attraktion, die man mindestens einmal im Leben gesehen haben sollte.

https://www.sardegnaturismo.it/de/die-stille-stimme-der-wandmalereien-von-orgosolo

Quellen:

https://www.spiegel.de/geschichte/orgosolo-auf-sardinien-killer-und-kuenstler-a-1111079.html

Manche Wandgemälde sind im Laufe der Jahre verblasst. Wegen ihrer Anziehungskraft auf die Touristen, beginnt man sie zu restaurieren.

Die Geschichte des kleinen Galerie-Bildes: Soll ich gehen oder nicht, scheint der Hirte den Schafschädel in seiner Hand zu fragen. 1978 sollten die Hirten die Herden in Tal treiben, damit die Flächen Zeit zur Regeneration hatten. Während dieser Zeit sollten sich die Hirten Flächen im Tal pachten, was sich manche nicht leisten konnten. „Hirten und Arbeiter vereint gegen Großgrundbesitzer und die Regierung der Bosse“, lautet die Losung auf der Fahne. Quelle Spiegel

Damit jeder weiß, wo er sich gerade befindet: Der Finger zeigt auf Orgosolo

Viele Wandgemälde behandeln auch aktuelle Themen, wie Flucht und Emigration

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